Was lange währt, wird endlich gut?

Ich habe sie gebucht, die lange fällige Rückkehr zu meinen Anfängen. Am Gründonnerstag geht es endlich los im klimatisierten 4-Sterne Fernreisebus. Dann fahren meine Frau und ich für fünf Tage nach Breslau, oder präziser ausgedrückt, nach Wrocław. Das sind für mich verschiedene Welten. Wrocław ist eine reale polnische Stadt an der Oder, Breslau existiert in meinem Kopf als ein Bündel von Erinnerungen. Dort ist mein Breslau zu einem großen Teil in einem Ozean des Vergessens versunken, nur Fragmente tauchen ab und an aus dem trüben Untergrund auf.

Auf Anhieb kehren vereinzelt Erinnerungen zurück, an die Liebichshöhe, die Kaiserbrücke mit ihrem eindrucksvollen gemauerten Steinbögen, die Jahrhunderthalle mit dem imposanten bewachsenen Arkadengang, den Zoo mit seinen Tieren und eigenartigerweise an das Kettenkarussell auf dem Rummelplatz, welches plötzlich in sich zusammenbrach und mich zu lautem Jubel veranlasste, weil ich dachte, das gehört dazu, während ringsumher die Besucher ihr Entsetzen ob der Verletzten zum Ausdruck brachten. Erst das gezischte: „Sei stille, biste wohl stille!” meiner Mutter machte mir klar, dass etwas nicht stimmte.

Dies sind nicht unbedingt viele Erinnerungen an neun erlebte Jahre in der Oderstadt. Viele meiner Kindheitserlebnisse sind inzwischen verblasst und nicht mehr eindeutig zuzuordnen. Manche Eindrücke sind aufgepfropfte Erzählungen Anderer, von denen bildliche Vorstellungen in meinem Gedächtnis verankert sind. Aber, es sind meine Erinnerungen, mein Leben. Ich möchte sie nicht missen und auf mehr von ihnen Zugriff erlangen.

Breslau, das ist weit weg. Viel weiter als die 800 Kilometer nach Wrocław. Breslau ist für mich 58 Jahre entfernt, wenn man ab dem Exodus im Winter 1944/45 zählt und oder 67 Jahre, seit ich im Elisabethkrankenhaus am Stadtgraben am 14. Juli 1935 die niederschlesische Tiefebene mit meiner Existenz beglückte. Für mein Empfinden ist Breslau Lichtjahre entfernt. Wird Wrocław mir mein Breslau wieder näher bringen? Natürlich weiß ich, dass fünf Tage nicht ausreichen, um aus Wrocław wieder Breslau zu machen. Da würden auch fünf Jahre nicht reichen. Zu viel hat sich verändert seit damals, und auch die heutigen Bewohner sind nicht die von damals, und doch hoffe ich, meinem Breslau wieder näher zu kommen.