Heimat, wo bist Du?

Roots! Wurzeln! Plötzlich denke ich an diesen amerikanischen Film. Zurück zu den Wurzeln, ist dort die Heimat? Was ist mit Norddeutschland, wo ich aufwuchs? Seit unserer Flucht im November 1944 lebe ich im Elbe-Weser-Dreieck, dem nassen Dreieck, wie es auch genannt wird. In der Stadt Bremervörde hat meine Familie ein neues Zuhause gefunden.

In der Ostestadt habe ich das Ende der Nazi-Ära und den Einmarsch der Engländer erlebt. An einem Tag marschierten die deutschen Soldaten kompanieweise mit geschulterten Karabinern durch die Stadt. Ein paar Tage später kehrten sie ebenfalls wieder kompanieweise zurück. Diesmal unbewaffnet als Kriegsgefangene, an jeder Seite von englischen Soldaten mit Maschinenpistolen bewacht.

Auf der von englischen Pionieren erstellten Notbrücke über die Oste, nur 300 Meter von mir entfernt, wurde Heinrich Himmler gestellt. Er trug die Uniform eines einfachen Soldaten und hatte sich mit einer Augenklappe getarnt. Diese wurde ihm zum Verhängnis. Als er bei der Kontrolle die Augenklappe abnehmen musste und das Auge unverletzt war, wurde die Brückenwache misstrauisch. Zwei andere Jungen und ich haben die Verhaftung von unserem Spielplatz auf dem nahe gelegenen Burgberg im Volkspark beobachtet, ohne zu ahnen, dass es sich um Himmler handelt. Von unserem 'Spielplatz' hatten wir eine gute Sicht auf die Pionierbrücke über die Oste. Dort kontrollierte eine Gruppe englischer Soldaten die Passanten, unter denen sich neben Zivilisten auch ehemalige deutsche Soldaten befanden, die sich glücklich im Besitz eines Passierscheins auf dem Weg nach Hause befanden. Dann gab es unten einige Aufregung. Die Brückenwache scharte sich um eine Person in deutscher Uniform. Mehrere Jeeps mit englischen Offizieren tauchten auf, unter ihnen der Militärgouverneur, ein Army-Captain. Eine halbe Stunde später ging die Nachricht wie ein Lauffeuer durch den Ort: „Die Engländer haben Himmler erwischt!” Zwei Tage später zerbiss er in Barnstedt bei Lüneburg während eines Verhörs eine mitgeführte Zyankalipille und machte damit seinem schuldbeladenen Leben ein Ende.

Unsere 'Spiele' zu dieser Zeit bestanden aus dem Auseinandernehmen der Panzerfäuste, mit denen vor ein paar Tagen noch der Volkssturm patrouillierte. Wir zogen die Köpfe ab, welches sich durch ein lautes metallisches Plopp der sich entfaltenden Stabilisierungsflügel äußerte. Dann schoben wir mit einem Besenstiel die Papphülsen mit dem feinen schwarzen Pulver heraus. Damit ließen sich wunderbare Stichflammen erzeugen. Überall lagen auch die Pulverpäckchen für die Granatenkartuschen herum. Manche enthielten große, Salmiakpastillen ähnliche gelbe Pulverstückchen. Wir brachten sie einzeln mit einem Hammerschlag zur Explosion und freuten uns über den lauten Knall. Daneben gab es schwarze Pulverstangen in der Form von Makkaroni. Wenn man sie anzündete, brannten sie einfach ab, allerdings entwickelten sie durch Austreten mit dem Fuss einen beachtlichen Rückstoß. Nach einem Wurf in die Luft flogen sie etliche Meter weit weg, bis sie sich selbst aufgebraucht hatten. Sie entwickelten dabei ein heulendes Geräusch. Wenn die englischen Soldaten oder deutsche Erwachsene dahinter kamen, verscheuchten sie uns regelmäßig.

In der niedersächsischen Kreisstadt habe ich den Rest meiner Schulzeit verbracht und bin konfirmiert worden, hier habe ich schwimmen und Rad fahren gelernt und neue Freunde gefunden. Von hier aus haben wir gemeinsam die Gegend erkundet mit vielen Radtouren ins Alte Land während der Kirschblüte, nach Bederkesa zum Baden, oder nach Cuxhaven zur Wattwanderung.

In Bremervörde ist meine Großmutter gestorben, die noch im vorletzten Jahrhundert in einem Dorf in Niederschlesien zur Welt kam. Hier sind auch meine Eltern gestorben. Alle drei haben hier fern von Schlesien ihre letzte Ruhe gefunden. In Bremerhaven habe ich meinen Beruf erlernt. Hier war ich stationiert, als ich beim Minenräumverband Minen in Nord- und Ostsee räumte. Während meiner Bundesmarinezeit war ich in den Marinefunkstellen Wilhelmshaven und Cuxhaven, sowie in der Unteroffiziersschule in Brake stationiert. In Bremerhaven habe ich die Seefahrtsschule besucht und bin von hier aus als Funker auf Fischtrawlern nach Island, Norwegen und Grönland gefahren. Aus dem Teufelsmoor habe ich mir meine geliebte 'Moorhexe' geholt, mit der ich seit über 40 Jahren verheiratet bin und die mir in Bremervörde unseren Sohn geboren hat. Seit 32 Jahren wohne ich mit meiner Frau in Bremen.

Kein Zweifel, mit dieser norddeutschen Scholle bin ich verwachsen und ich nenne sie Heimat. Hier habe ich Wurzeln geschlagen. Aber was ist dann Breslau für mich? Nur ein Geburtsort oder doch mehr, auch eine oder die Heimat? Ich hoffe, dass mir mein Besuch in der Metropole an der Oder darauf eine Antwort liefert.

Die Enten im Fleet haben sich inzwischen ein Stück weiterbewegt. Über mir brummen Flugzeugmotoren. Auf dem Bremer Flughafen findet eine Veranstaltung statt. Von dort her nimmt ein dumpfes Brummen immer mehr zu. Eine dunkle Kontur schiebt sich schwerfällig über den Himmel. Das ist doch..., ja sie ist es, eine alte JU 52. Die Maschine wurde 1936 in Dessau bei Junkers gebaut, berichtet der WESER-KURIER. Der Luft-Oldie ist nur ein Jahr jünger als ich.

Plötzlich stehe ich wieder neben meinem Onkel Willi, dem Luftwaffenfeldwebel, bei dem der Kaiser noch Pate stand, auf dem Hof an der Bolkenhainer Straße. Wir beobachten die Flugzeuge, die vom Breslauer Flughafen gestartet sind oder zur Landung ansetzen. Onkel Willi, der Bordschütze mit überlebtem Absturz, kennt sie alle. Die Messerschmidts, Junkers, Heinkel, den Fieseler Storch, die große sechsmotorige Maschine und all die anderen Flugzeugtypen. „Guck, Jorgel” sagt er zu mir, „da ist sie wieder, die alte Tante JU!” Tatsächlich, da war sie. Flog wie jeden Vormittag eine Schleife über dem Grundstück und machte sich davon nach Berlin.

Die Stimmen der uns in Muße passierenden Spaziergänger holen mich zurück in die Gegenwart. Eine JU 52, denke ich und schaue nach oben, wo der metallene Vogel langsam seine Kreise zieht. Es ist zwar unwahrscheinlich, aber das könnte sogar die Maschine von damals sein. Ein Omen? Breslau ist plötzlich ein ganzes Stück näher gerückt. In mir macht sich ein warmes Gefühl breit. Ich kann die Abreise nach Wrocław kaum noch erwarten.