Propaganda und Kinder

Historische Kleinfamilienaufnahme

Winter 1944. Der zweite Weltkrieg nähert sich dem Ende. Meine (leiblichen) Eltern haben gerade geheiratet. Ich stehe verwirrt neben ihnen.

Das Kriegsende erlebte ich in Bremervörde. Trotz der Kriegserlebnisse hatte ich immer noch nicht begriffen, was los war. Auf der Hauptstraße, ein paar Tage vor der Kapitulation, zogen mehrere Kompanien müder deutscher Soldaten an uns vorbei. Ein neuer einheimischer Freund forderte mich auf, mit ihm im NSDAP-Büro Propagandamaterial zu holen. Dort waren zwei braun uniformierte Männer dabei, die Schränke leer zu räumen und Material zu vernichten. Überrascht erfüllten sie unsere Bitte. Durchhalteappelle im Volksempfänger waren zu diesem Zeitpunkt kaum noch zu hören. Als wir den vorbei marschierenden Soldaten das Material anboten, hätten diese uns bald verprügelt und wir mussten uns einige böse Worte anhören. So naiv kann eigentlich auch ein Neunjähriger nicht mehr sein. Später habe ich über diesen Vorfall nachgedacht. Wäre ich in das Nazisystem integriert worden? Wahrscheinlich ja, aber als kritischer Mensch, der den Mund nicht halten und Ungerechtigkeiten nicht leiden kann, wäre ich irgendwann mit dem System kollidiert und wahrscheinlich sein Opfer geworden.

Was meine weitere Entwicklung betrifft, landete ich 1956 trotz aller negativen Erfahrungen durch den 2. Weltkrieg bei der Bundesmarine, nachdem ich beim Minenräumdienst der U. S. Navy in Nord- und Ostsee die Überbleibsel des Krieges (Seeminen) räumte. Erst auf der Unteroffiziersschule, als wir während der Landkampfausbildung den Umgang mit dem Bajonett übten und man uns zeigte, wie man Menschen damit aufspießt und tötet, kam ich ins Grübeln und mir wurde klar, dies ist nicht mein Metier!

Das heutige Schlesien ist nicht mehr das Schlesien meiner Kindheit. Gerne kehre ich noch einmal zurück, um die alten Stätten etwas intensiver zu durchforschen und der Nostalgie in meinem Herzen Raum zu geben. Ich habe hier seinerzeit kein Rittergut zurückgelassen, meinen Eltern gehörten nur die Möbel in unserer Wohnung und die persönlichen Sachen, die wir nicht mitnehmen konnten. Inzwischen weiß ich, mein Zuhause ist in der Hansestadt Bremen, wo ich den Rest meines Lebens verbringen und auch meine letzte Ruhestätte finden möchte.

Vielleicht kommt bald eine Zeit, wo in einem einigen Europa ohne Grenzen die Nationalitäten nicht mehr eine so wesentliche Rolle spielen und jeder wohnen kann, wo es ihm gefällt und auch wieder Deutsche in Schlesien ansiedeln.

Natürlich ist mir klar, es kommen mit der EU-Erweiterung auch eine Menge Probleme auf uns zu. Die kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung hinter dem Eisernen Vorhang war zu unterschiedlich zu unserer im Westen. Vor uns liegen eine Menge Mühe und Anstrengung und mit Sicherheit auch Verzicht und Opfer für uns alle. Nach dem Kontakt mit den Menschen in Polen schaue ich mit einer zwar kritischen aber doch hoffnungsvollen und positiven Erwartung in die Entwicklung unserer gemeinsamen Europäischen Union.

Foto des Autors in deiner ehemaligen Heimat

Der Autor dieser Zeilen im Glatzer Bergland vor dem Heuscheuer, einem zerklüfteten Bergstock aus Quadersandstein.