Ein Nachmittag der Gefühle

Aufgewühlt von dem Erlebten kehren wir in unser Hotel zurück. Für den Nachmittag habe ich für meine Frau und mich einen Mietwagen reserviert. Dann soll es an die eigentlichen Stätten meiner Breslauer Kindheit gehen. Da es fast schon zwei Uhr ist, bleibt zum Mittagessen keine Zeit mehr. Ein Stück Schokolade beruhigt den knurrenden Magen. Nach einer kurzen Verschnaufpause besteigen wir unser Taxi. Wir haben Glück, der gut deutsch sprechende Taxifahrer mit dem unaussprechlichen Namen 'Czesław Zdunczyk' ist mit den alten deutschen Straßen- und Flurbezeichnungen vertraut. Er gibt sich wirklich Mühe, mir alle alten, lieb gewonnenen Stätten zu zeigen. Sein Sohn hat in Deutschland studiert und ist in Trier mit einer Deutschen verheiratet. Europa wächst zusammen. Am Hauptbahnhof geht es vorbei, den erkenne ich sofort wieder. Wir passieren den Wachtplatz. Den kenne ich! Langsam werde ich unruhig und atme schneller. Das Westend Breslaus kommt näher.

Foto der Posener Schule

Das ist die Posener Schule. Streng katholisch geführt. Wir Evangelischen wurden im hinteren Gebäude mehr oder weniger geduldet.

Dann sind wir auf dem Striegauer Platz zwischen Friedrich-Wilhelm-Straße und Frankfurter Straße. Hier in der Nähe befand sich meine zuletzt besuchte Schule und schon zeigt der Fahrer auf einen roten Gebäudekomplex. „Die Schule an der Posener Straße”, teilt er mir mit. Sie ist es. Der düstere Backsteinbau ist nicht zu übersehen. Mitten in einem freien Gelände ragt der Gebäudekomplex auf. Wo sind all die Häuser geblieben, die Straßenschluchten? Ich bin fassungslos, verwirrt zücke ich meine Kamera und mache ein paar Fotos, auch von dem Gebäudetrakt auf dem Hinterhof, wo sich meine Klasse befand, sozusagen als evangelische Enklave in einer katholischen Schule. Wir fahren weiter. Links vor uns rückt der Nikolaitor-Bahnhof ins Blickfeld. Aber wie klein ist er geworden. Der Durchgang zu den Bahnsteigen, der bis drüben zur Bolkenhainer Straße führte, ist nur ein schmaler düsterer Durchgang von etwa eineinhalb Metern Breite. In meiner Erinnerung ist er mehrere Meter breit und viel höher. Ich bin verwirrt. Der Bahndamm ist nur halb so hoch wie ich meinte und die nächste Unterführung an der Striegauer Straße ist nicht mehrere Kilometer entfernt, sondern nur zweihundert Meter. Ich muss einen Teil meiner Erinnerungen revidieren. Der Blickwinkel eines kleinen Jungen liegt doch beträchtlich unter dem eines Erwachsenen.

Wir fahren weiter zur Liegnitzer Straße. Hier bin ich in der evangelischen Schule eingeschult worden. Was ist hier los? Die hohen Stadthäuser an beiden Seiten sind verschwunden. Vereinzelte Nachkriegsbauten sind zu sehen. Dann sehe ich sie! Meine Schule! Sie sieht noch aus wie damals und wird immer noch als Schule benutzt.

Hier bin ich eingeschult worden und habe das ABC gelernt, anfangs noch in der Sütterlin-Schrift. In der Erinnerung sehe ich meinen Lehrer vor mir. Er war noch sehr jung und stammte aus dem Westen Deutschlands. Wir sollten ihn 'Onkel Willi' nennen, bat er uns ABC-Schützen, was uns sehr komisch vorkam. Zu einem fremden Mann Onkel zu sagen, war uns fremd, zudem hatte ich schon einen Onkel Willi. Da er aber ein feiner Kerl war, befolgten wir seine Bitte.