Schüler mit schwacher Blase

Leider war ich kein Musterschüler. Meine Manieren ließen manchmal zu wünschen übrig. Eines Tages verließ ich nach Schulschluss das Gebäude über die Freitreppe für Mädchen, die Trennung der Geschlechter war an dieser evangelischen Schule allerdings längst aufgehoben. Auf der Treppe überkam mich plötzlich ein Völlegefühl in der Blase. Frei aufgewachsen, wie ich war, pinkelte ich fröhlich auf die Stufen. Plötzlich öffnete sich oben das Portal und mein Klassenlehrer 'Onkel Willi' kam mit ein paar anderen Lehrern und Lehrerinnen heraus. Auch ihre teils eisigen Mienen ließen mich nicht in meinem Geschäft innehalten. Allerdings ließ ich mich dazu herab, stramm die Hand zum Hitlergruß zu heben. Notgedrungen mussten jetzt die Lehrer ebenfalls ihre Hände heben und ein 'Heil Hitler' schmettern.

Foto der Schule an der Liegnitzer Straße

Die Schule an der Liegnitzer Straße. Sie sieht noch aus wie damals. Nur mußte ich ich feststellen: Die von mir zur Toilette degradierte Freitreppe ist nicht draußen, sondern befindet sich innerhalb des Gebäudes. Ich sollte mich ja was schämen!

Am nächsten Tag musste meine arme Tante Frieda in der Schule erscheinen und sich strenge Ermahnungen bezüglich meiner Erziehung anhören. Schließlich hatte ich ja quasi den Führer beleidigt. 'Onkel Willi', mein Lehrer, wurde vom Rektor angewiesen, mir vor der Klasse eine ordentliche Tracht Prügel zu verabreichen. Zum Glück hatte er zwei Tage vorher den Schlagstock zerbrochen, weil er ein Gegner der Prügelstrafe war. Der Stock wurde an den Bruchstellen nur von der Rinde zusammengehalten, so dass die Züchtigung eine reine Farce war. Bei 'Onkel Willi' brauchten wir innerhalb der Klasse auch nie den 'Hitler-Gruß' ausführen. Das mussten wir nur in der Öffentlichkeit vorführen, wo immer die Gefahr bestand, jemand vom Parteiapparat passt auf. In den letzten Kriegsjahren wurde die Schule von der Wehrmacht übernommen und die meisten der männlichen Mitglieder des Lehrkörpers einschließlich unseres 'Onkel Willi' eingezogen. Wir haben nie wieder etwas von ihm gehört.

Ich steige aus und zücke meine Kamera. Mache Aufnahmen von der Straße aus, vom Hof, von der Rückseite. Vom Haupteingang aus werden mir kritische Blicke vom Hausmeister zugeworfen. Der Taxifahrer winkt ab. „Das kennen die, hier erscheinen des Öfteren alte Breslauer und machen Erinnerungsfotos”. Es geht zurück in die Taxe. Ich zittere am ganzen Körper und kann kaum sprechen. Jetzt hat sie mich gepackt, die Heimat, und Tränen füllen mir wieder die Augen.

Wir fahren weiter und kommen am Tschepiner Platz vorbei. „Die Tschepine hatte einen schlechten Ruf”, teilt mir der Fahrer mit, wobei er mich fragend ansieht. Jetzt wo er das sagt, fällt es mir auch wieder ein. Dieses Vorurteil hat sich aber lange gehalten. Mit diesem Viertel hatte ich allerdings wenig Kontakt, da ich auf der anderen Seite des Westends wohnte. Endlich erreichen wir die Anderssenstraße, wo in der Nähe der Kreuzung zur Westendstrasse Onkel Hermann, Tante Hedel, mein Cousin Otto und meine Cousine Traudel wohnten. Zwei Häuser weiter wohnten auch Onkel Paul und Tante Klara. Wir fahren einmal die gesamte Straße auf und ab. Das ist nicht die Anderssenstraße, rufe ich! Wo sind die Häuserschluchten mit den alten Fassaden. Nichts ist mehr vorhanden. 'Mlodich Technikow' heißt sie auf Polnisch und wie lautet die alte Bezeichnung laut Stadtplan von 1945? Ich kann es nicht glauben, Anderssenstraße steht dort. Das ist nicht die Anderssenstraße, die ich kenne.

Der Taxifahrer bemerkt meine Enttäuschung und versucht mich über das Warum zu informieren. Nach 1945 bis in die fünfziger Jahre war Breslau die größte Ziegelei Polens, erläutert er mir. Mit den Steinen Breslaus wurde Warschau wieder aufgebaut. Waggon um Waggon, Zug um Zug fuhr gefüllt mit Ziegeln aus der Oderstadt in die polnische Metropole. Es wurden sogar intakte Gebäude und Straßenbeläge abgebaut. Ich bin enttäuscht. Muss ich jetzt nach Warschau fahren, um mein Breslau wieder zu sehen? Unser Fahrer streicht mir mitfühlend über den Arm. Er kommt aus dem polnischen Masuren und seine Eltern mussten ihre Heimat ebenfalls verlassen. Wir machen kehrt. Wieder kommen wir am Nikolaitorbahnhof vorbei.