Ein großer Haufen Bauschutt

Foto von Fabrikruine an der Bolkenhainer Straße

Bolkenhainer Straße. Das ehemalige Fabrikgebäude der FAMO (Fahrzeug- und Motorenwerke). Sogar ein Teil der alten Pappeln steht noch, nur die vertraute Mauer ist inzwischen halb eingestürzt. Mein Onkel Fritz arbeitete dort. Vor der FAMO wurde das Gelände von der Fa. Dorndorf zur Schuhproduktion genutzt. Genau links gegenüber ging es auf das Grundstück, wo ein Teil meiner Familie wohnte. Hier verbrachte ich den größten Teil meiner Breslauer Zeit. Jetzt ist dort nur eine riesige Bauschutthalde.

Jetzt sitze ich im Taxi vor dem Nikolaitorbahnhof und drüben hinter dem Bahndamm liegt die Bolkenhainer Straße. Dort habe ich gewohnt und jetzt bin ich nur wenige Meter von meinem ehemaligen Zuhause entfernt. „Zur Bolkowska”, sage ich zum Fahrer, aber der starrt mich nur verständnislos an. „Da drüben ist nichts mehr” ist seine lapidare Aussage. „Da ist nichts mehr? Dort ist die Bolkenhainer Straße! Dort habe ich gewohnt”, antworte ich voller Panik. Der Fahrer zuckt mit der Schulter. Wir fahren durch die Unterführung und ich lese auf dem Straßenschild 'Bolkowska'. Na bitte, ich wusste es doch! Der Fahrer zeigt nur resigniert mit dem Finger den Bahndamm entlang.

Wo früher eine Straße war, ist jetzt nur noch ein Trampelpfad, an dessen Ende eine riesige, mindesten 20 Meter hohe und zirka 200 Meter lange Bauschutthalde liegt. Wie tief diese ist, kann ich nicht erkennen. Da war einmal die Bolkenhainer Straße. Verzweiflung macht sich in mir breit, ich fühle mich um meine Heimat betrogen. Hier habe ich die ersten Jahre meines Lebens verbracht. Hiermit verbinden mich meine tiefsten Erinnerungen. Wieder werden mir die Augen feucht, Erinnerungen steigen auf.

Vor mir sehe ich das graue Gebäude mit dem eigenwilligen Baustil. Die Wohnungen im Erdgeschoss waren alle von außen durch eine Doppeltür zu erreichen, während zum Obergeschoss eine gemauerte Außentreppe zu einem Flur führte, der die einzelnen Wohnungen verband. Hier war ich in Pflege bei meiner Tante Frieda, die mit meiner Großmutter, meinem Onkel Fritz und meiner Cousine Ruth hier wohnte. In einer der Nachbarwohnungen wohnte mein Onkel Albert mit seiner Frau Else und meiner Cousine Ilse. Zur Toilette musste man das Haus verlassen und das im Hof gelegene Plumpsklo benutzen. Die langen Winterabende wurden durch eine anheimelnde, aber nicht sehr helle Petroleumlampe erhellt. Diese Lampe und die Kombination von Kachelofen und Küchenherd waren die einzigen Wärmequellen in den teilweise sehr strengen Wintern. Da kam es ab und zu vor, dass das Wasser der Wärmflaschen morgens gefroren war.

Mit meinem Freund Heine Wünsch habe von hier die gesamte Umgebung erkundet. Vorne zum Kaufmann, wo auch die Heißmangel stand, schickte mich Tante Frieda Semmeln holen und einmal in der Woche nahm sie mich mit zum KONSUM-Laden an der Frankfurter Straße mit. Dort bekam ich immer ein Bonbon geschenkt. Allerdings viel wertvoller für mich waren die Comic-Heftchen der Kaffeefirma Darboven, in denen eine Kaffeebohne namens Darbone die tollsten Abenteuer erlebte. Ich fieberte immer auf die neueste Ausgabe und habe die Heftchen gelesen, bis sie zerfleddert waren. Bohnenkaffee gab es allerdings nur an Feiertagen. Die übrige Zeit wurde Muckefuck aufgebrüht.

Hinten auf dem Hof des Grundstückes habe ich gespielt und von meinem Onkel Albert ein Tracht Prügel bekommen, weil ich nicht von der Wasserpumpe, die 'Plumpe' genannt wurde, herabsteigen wollte. Auf dem Hof stand ein Maulbeerbaum, von dessen süßen Beeren wir Kinder im Sommer naschten. Im Hintergrund des Hofes ragten die Grundmauern des ehemaligen Tanzrestaurants 'Belvedere', das schon lange vor meiner Geburt abgerissen wurde, aus dem Boden. Das war ein wunderschöner Abenteuerspielplatz.

An einer Seite der Auffahrt zum Grundstück lagen hinter einem Bretterzaun einige Schrebergärten. Einer von Ihnen wurde von der Nachbarin aus dem oberen Stockwerk, Frau Buchwald, bewirtschaftet. An einem Frühlingstag arbeitete die Nachbarin im Garten und verbrannte in einem offenen Feuer Gartenabfälle. Das Feuer verleitete mich, alte zerbrochene Ziegelsteine über den Zaun in das Feuer zu werfen. Leider traf ich den Sohn der Frau Buchwald am Kopf, wo der Stein eine blutende Wunde hinterließ. Auf das folgende Gejammer und Gezeter antwortete ich frech: „Sie haben mir gar nichts zu sagen, wir sind Hausmeister!”

Meiner Tante, die diesen Job innehatte, bereitete ich mit diesen unverschämten Worten eine Menge Ärger und Verdruss. Die Vergangenheit hält leider nicht nur positive Erinnerungen bereit.

Ich erinnere mich an einen Badetag an der Oder, wo wir zwischen den Buhnen im Wasser herumtollten, dann unsere Wasserflaschen füllten und den Inhalt in die Mäuselöcher am Ufer gossen, bis die Mäuse herauskamen. Die possierlichen Tierchen wurden von uns eingefangen und in hohem Bogen in die Oder geworfen. Die Mäuse konnten allerdings gut schwimmen. Schnell waren sie wieder an Land und verschwanden frisch gebadet in ihren Gängen. Uns machte dieses einen Heidenspaß, was wieder einmal die Theorie unterstreicht, Kinder seien grausam. Ein anderes Mal, mit ein paar Böhm (schlesisch für Groschen) von meiner Tante ausgerüstet, durfte ich allein ins Koseler Waldbad gehen, wo ich natürlich prompt ins Schwimmerbecken stieg und beinahe ertrunken wäre, hätte mich nicht ein größerer Junge schon im Visier gehabt und wieder herausgezogen. Nach einer ernsten Ermahnung musste ich ins Nichtschwimmerbecken. Kindheitserinnerungen!

Eines Tages kam über der Bolkenhainer Straße ein heftiger Gewitterregen herunter mit der Folge, dass der ganze Keller unter Wasser stand. Gespannt verfolgte ich, wie alle anwesenden Bewohner versuchten, den Keller mit Eimern leer zu schöpfen. Das war interessant! Doch dann rief mich meine Tante Frieda zum Essen. An diesem Tag gab es Milchreis, leider war der Reis durch Graupen, so genannte Kälberzähne, ersetzt worden. Kriegszeiten verlangen Opfer. Ich kaute mit langen Zähnen, es dauerte und dauerte. Draußen wartete der Keller auf mich. Das Essen wurde kalt und der Geschmack immer schrecklicher. Ich schaute hoffnungsvoll zu meiner Tante, doch die ehemalige Krankenschwester kannte kein Erbarmen. Ich musste alles herunterwürgen. Endlich war der Teller leer gegessen. Ich stürmte zurück zum Keller, doch der war inzwischen wieder trocken. Ich kam zu spät. Nie habe ich in meinem Leben jemanden so gehasst, wie in diesem Moment meine Tante Frieda, aber am nächsten Tag hatte ich sie wieder lieb.

Jetzt stehe ich vor einem großen Haufen Bauschutt und hänge wehmütigen Erinnerungen nach. Vorbei an den ehemaligen Lincke-Hoffmann-Werken fahren wir ein paar Hundert Meter weiter. Dort führt die ehemalige Jauer Straße ebenfalls zur Bolkowska. Wieder stehe ich vor dem Bauschutthaufen. Ein Stück der alten Bolkenhainer Straße ist noch zu erkennen. Auf der rechten Seite steht noch eine Fabrikhalle, die ich wieder erkenne. Genau gegenüber ging es zu unseren Wohnungen, aber da ist nichts mehr. Mit weichen Knien steige ich ins Taxi, wieder fließen Tränen. Unser Taxifahrer versucht mich zu trösten. Er wohnt nur ein paar Kilometer weiter in Mochbern, das an unser Viertel angrenzt. Mit rauer Stimme will ich von ihm wissen, wo all die Häuser geblieben sind. Die Flut von 1997 hat ganze Stadtteile unterspült, erklärt er mir. Viele Häuser mussten gesprengt werden. Ein großer Teil des Bauschutts lagert jetzt hier, einschließlich der Häuser der Bolkowska. 'Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben', lautet ein Sprichwort. Nun, anscheinend bin ich zu spät gekommen und muss die Strafe einer nicht wieder gefundenen Heimat auf mich nehmen.

Historisches Foto der Bolkenhainer Straße

Das Haus an der Bolkenhainer Straße. Es war von eigenwilliger Bauart. Im Erdgeschoß wurden die Wohnungen direkt von außen durch eine Doppeltür betreten, während zum Obergeschoß eine gemauerte Außentreppe führte. Über einen langen Flur gelangte man zu den Wohnungen. Der linke Eingang führte zur Wohnung meiner Großeltern, der Eingang rechts im Bild gehörte zur Wohnung von Onkel Albert.