Ich lerne meinen Vater kennen

Foto der Brüderstraße 20

Hier steht mein zweites Breslauer Domizil. Brüderstraße 20, die erste eigene Wohnung meiner Mutter. Die Nummer stimmt immer noch, nur die Straße hat einen polnischen Namen. Die Großwohnungen waren damals in mehrere Einheiten aufgeteilt.

In der Wohnung in der Brüderstrasse lernte ich meinen Vater kennen. Eines Nachts weckte mich meine Mutter und führte mich ins Schlafzimmer, wo ein fremder Mann in ihrem Bett lag, eine Landseruniform hing über einem Stuhl. „Das ist dein Vater!” verkündete sie stolz. Ich war stocksauer, bislang war ich ganz gut ohne Vater ausgekommen und jetzt lag da einfach ein fremder Kerl im Bett meiner Mutter und ich konnte mir nicht einmal aussuchen, wer mein Vater sein sollte. Kurz darauf heirateten die beiden und ich musste mich damit abfinden einen Vater zu haben. Immerhin war es mein richtiger Vater und ich musste nicht mit einem Stiefvater vorlieb nehmen.

Jetzt stehe ich wieder vor dem Haus in der Brüderstraße. Der Taxifahrer hat mich schnell aussteigen lassen und sich auf die Suche nach einem Parkplatz gemacht. Hier ist überall Halteverbot. Angesichts riesiger leerer Flächen überall ist das eigentlich unsinnig. In der Brüderstraße stehen kaum noch Häuser. Die meisten sind ebenfalls der Flut von 1997 zum Opfer gefallen. Die Sprengung wegen zerstörter Fundamente war ihr Schicksal. Das Haus Nummer 30 steht auch noch. Dort wohnte früher unser Taxifahrer. Ich schieße ein paar Erinnerungsfotos. Der Fahrer hat sein Taxi um die Ecke stehen lassen und folgt mir. Meine Frau sitzt im Wagen und bewacht mit einem mulmigen Gefühl im Bauch das Taxi und wartet ungeduldig auf unsere Rückkehr.

Wir gehen durch die Tordurchfahrt der Nummer 20 und betreten das Haus. Ich erkenne alles sofort wieder. Auch das Treppenhaus ist noch von 1944, schon damals war es alt. Jetzt klaffen zwischen den Dielen zentimeterbreite Lücken. Über drei Meter stand in dieser Straße 1997 das Oderwasser. Die beiden Wohnungstüren sind mir fremd. Früher sah das hier anders aus. Der Taxifahrer schaut mich fragend an, ich zeige nach rechts. Er drückt die Türklingel und ein junger Pole öffnet. Nach ein paar erklärenden Worten dürfen wir eintreten.

Ein polnisches Ehepaar mit zwei Kindern und die Mutter der Ehefrau wohnen hier. Sie haben ihr Wohneigentum am Rande Breslaus veräußert und dafür diese Wohnung gekauft. Sie ist 140 Quadratmeter groß. Damals war sie in zwei Wohnungen aufgeteilt. Der Gegensatz zum Treppenhaus ist gewaltig. Das junge Ehepaar hat die Wohnung in Eigenarbeit renoviert. Die Wohnung macht einen hervorragenden und sauberen Eindruck. Nur an die Wohnung meiner Mutter erinnert mich nichts mehr. Wir werden zum Kaffee eingeladen, die ältere Dame holt schon Tassen aus der Vitrine. Wir müssen leider ablehnen, da das Taxi immer noch im Halteverbot steht und meine Frau im Wagen sicher schon nervös auf dem Sitz hin und her rutscht. Wir verabschieden uns von dem freundlichen Ehepaar und seiner Mutter. Ich habe nur noch einen Wunsch: Zurück in das Hotel. Mein Kopf schwirrt mir. Ich muss unbedingt Ordnung schaffen in dem Wirrwarr voller Eindrücke in meinem Hirn und mein Gefühlsleben muss langsam wieder zur Ruhe kommen.

Auch andere Mitglieder unserer Reisegruppe haben Besuche auf dem Land bei polnischen Familien abgestattet, die in Häusern wohnen, die ehemals ihren Angehörigen gehörten. Die Aufnahme war in allen Fällen mehr als herzlich. Die Besuche dauerten über mehrere Stunden mit reichlicher Bewirtung und intensiven Gesprächen. Auch bestehende Sprachprobleme waren kein Hinderungsgrund, notfalls wurde eben mit 'Händen und Füßen' geredet. Diese echte Herzlichkeit polnischer Gastfreundschaft überraschte uns alle.