Auf zu Rübezahl

Foto der Schweidnitzer Friedenskirche

Ein Kleinod erwartet uns: die Friedenskirche von Schweidnitz.

Heute bietet die Reiseleitung eine Fahrt ins Riesengebirge an. Schlesien besteht nicht nur aus Breslau und meine Erfahrungen mit der schlesischen Landschaft bestehen aus zwei Fahrten mit der Schmalspurbahn nach Trebnitz ins Katzengebirge (Trebnitzer Höhen) und mehreren Fahrten zum Zobten, den ich auch bestiegen habe. Dazu kommt noch eine Landverschickung nach Wandelheim bei Herrnstadt. Jetzt habe ich die Gelegenheit, mehr von der schlesischen Landschaft kennen zu lernen. Also ab in den Bus, aus dem Riesengebirgsort Petersdorf stammt meine Tante Elfriede, die Frau von Onkel Karl.

Das Wetter ist wieder freundlicher und es wird wärmer. Bruno, der Reiseleiter erzählt einen Morgenwitz. Außer der ausführlichen Information, die er uns bietet, lockert er ab und zu unsere Stimmung mit einem Witz auf. Wir machen Zwischenstation in Schweidnitz. Ich ahne nicht, was mich dort erwartet. Die Stadt war mir durch das Schweidnitzer Bier geläufig, auch wenn ich als Kind noch keines getrunken habe, außer dem Malzbier im Schweidnitzer Keller natürlich. Von der wunderschönen Friedenskirche hatte ich keine Ahnung. Die nach dem Dreißigjährigen Krieg erbaute kleine Holz-Basilika macht mir die Schönheit Schlesiens auf eindrucksvolle Weise klar.

Die Pracht im Inneren der Kirche überwältigt mich. Die Emporen erstrecken sich bis unter das Dach und 7.500 Menschen finden hier Platz. Ich verziehe mich in den Hintergrund des Kirchenschiffes, zücke meine Kamera und tue so, als ob ich fotografiere. Dann lasse ich meinen Tränen freien Lauf und bemerke, dieser Besuch ist für die meisten für uns eine sehr feuchte Angelegenheit. Die Tränen fließen nicht nur bei mir. An den Postkarten, die ich hier erworben habe, werde ich mich noch oft erfreuen. Draußen vor dem Bus treffe ich auf Bruno, unseren Reiseführer. Als er meine Tränen sieht, klopft er mehrfach auf seine Brust in Höhe seines Herzens. „So ging es mir in Lemberg!” sagt er leise mit wehmütiger Miene. Seine Familie war gezwungen, Lemberg zu verlassen. Nach einer langen Irrfahrt fanden seine Eltern, wie viele andere Lemberger, in Wrocław ein neues Heim.

Wir gehen zurück zum Bus. Dort versucht der Busfahrer, drei polnische Jungen zu verscheuchen, welche die Touristen anbetteln. Wir sollen nichts geben, sagt er uns, weil das nicht gut für die Jungen ist. Wenn sie erst einmal anfangen, zu betteln, kommen sie davon nicht mehr los. Wir lassen uns davon beeinflussen und geben nichts. Irgendwie scheint mir die Begründung nicht ganz logisch.

Wieder einmal finde ich mich im Jahr 1945 wieder. Wir stehen mit mehreren Jungen auf dem Burgberg in Bremervörde. Es ist Frühsommer. Wir umkreisen die ehemalige Baracke des Reichsarbeitsdienstes, die jetzt von englischen Soldaten bewohnt ist. Wir ziehen an den geöffneten Fenstern und rufen: „Chewing gum?”. Ab und zu haben wir Erfolg und einer der Soldaten wirft uns ein paar Kaugummis herüber. Als unsere Väter davon erfahren, werden wir animiert, nach Zigaretten zu fragen. So lauten unsere Bettelversuche an den nächsten Tagen: „Cigarettes? Cigarettes?”. Wir hatten zwar nur geringen Erfolg, aber mein Vater tauschte die Zigaretten auf dem Schwarzmarkt zu einem Gegenwert von acht Reichsmark pro Glimmstengel in Lebensmittel um. Diese Extra-Kalorien sind mir in der kargen Hungerszeit vor der Währungsreform gut bekommen.

Mir hat die damalige Bettelei nicht geschadet und sie hatte keinierlei negativen Einfluss auf mein späteres Leben. Jetzt ärgere ich mich, dass ich den Jungen nicht ein paar Münzen zugesteckt habe.

Weiter geht die Fahrt. Wir kommen durch Bolkenhain, wo ich viele alte Häuser entdecke. Jetzt sehe ich wenigstens die Stadt, nach der meine Bolkenhainer Straße benannt wurde. Wir erreichen Agnetendorf und besichtigen Haus Wiesenstein, das geliebte Domizil von Gerhart Hauptmann. Ich nehme mir vor, ein paar Werke dieses großen schlesischen Dichters und Nobelpreisträgers zu lesen. Da besteht bei mir ein erheblicher Nachholbedarf. Nachdenklich verlasse ich das Gebäude, dessen farbige Innendekoration mir ein bisschen zu aufdringlich erscheint.

Anschließend führt uns unsere Route nach Stonsdorf, Ursprungsort des bekannten Stonsdorfer Kräuterlikörs. Unser treuer Begleiter Bruno hält eine Überraschung für uns bereit: „Hier gab es früher eine Straßenbahn”, teilt er uns mit. Allseits sieht man ungläubige Gesichter. Dann erkennen wir an der rechten Straßenseite auf einem Podest tatsächlich eine Straßenbahn. Es stimmt also!